"Ich freue mich, bis zum Schluss bei ihm zu sein"

Bonner General-Anzeiger, 17.10.2000
Die 59-jährige Ursula G. besucht als Sterbebegleiterin seit fünf Jahren einen Aidskranken

"Nur einmal wollte ich aufhören, als unser jüngster Bewohner gestorben ist. Dann habe ich an ihn gedacht und mir gesagt: »Du kannst nicht aufhören, du hast ihm ein Versprechen gegeben: bis zum Schluss bei ihm zu sein.«" Lange Zeit steht "er" im Zentrum des Gesprächs - der Aidskranke, den die zierliche Siegburgerin seit fünf Jahren ehrenamtlich betreut. Erst spät im Gespräch beginnt die Ursula G. (59), von sich und ihren Gefühlen zu sprechen.

Sie macht "Sterbebegleitung" - obwohl Rolf O. (Name geändert) nicht im Sterben liegt. Weil sein Zustand aber keine Hoffnung auf Besserung lässt, ist er ins Betreute Wohnen von Bonn Lighthouse gekommen, wo er bis zum Tod bleiben kann. "Sterbebegleitung fängt bei uns nicht am Sterbebett an, sondern Jahre vorher, wenn klar ist, dass man unter einer todbringenden Krankheit leidet. Es hat viel mit Verlustbegleitung zu tun", sagt Jürgen Goldmann von Bonn Lighthouse. Dort hat Ursula G. Rolf O. kennengelernt. Ein besonderer Fall. "Er lässt niemand anderen an sich ran. Aber wir zwei sind gleich gestrickt." Wenig Gefühl zeigen, selbst zurecht kommen - an den Nachmittagen, als Ehrenamtler und Bewohner sich trafen, hat es sie von Anbeginn gereizt, einen Zugang zu dem Menschen mit dem abweisenden Blick zu finden. Der Knoten platzte, als sie ihn einmal in die Klinik begleitete. "Da hat er gemerkt, dass er mir wichtig ist und ich nicht nur zu viel Zeit habe." Inzwischen ist Ursula G. seine engste Bezugsperson - obwohl sie ihn nur einmal die Woche besucht. "Ich will Überforderung vermeiden." Vor allem die Tage sind anstrengend, an denen sie über den Tod sprechen. Ansonsten gehen sie in die Stadt oder spazieren. "Ich frage nie. Ich will nicht neugierig sein. Was ich von ihm weiß, hat er von selbst erzählt."

Als Einzige ist Ursula G. von jenen Ehrenamtlern noch dabei, die '94 am ersten Kursus für Sterbebegleitung bei Bonn Lighthouse teilnahmen. Eine "Auszeit" ist unter den Ehrenamtlern nicht unüblich. "Sterbebegleitung bedeutet auch Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit. Das fordert viel Kraft, besonders nach dem Ende einer Begleitung", sagt Goldmann. Da Begleiter sich häufig Menschen zuwenden, die ihnen ähneln, bringe das oft die Konfrontation mit der eigenen Geschichte mit sich.

Helfersyndrom? "Wer das hat, läuft Gefahr, sich zu überfordern und es nicht zu packen", sagt Ursula G. bestimmt. Deswegen haben sie und Rolf O. sich Grenzen gesetzt. Zu Hause hat Rolf O. sie noch nie besucht. Nur über Erzählungen lässt sie ihn an ihrem Familienleben teilhaben. Auch wenn es nicht immer leicht fiel - Mann, Kinder und Enkel haben sich an ihr Ehrenamt gewöhnt. Dabei hat ihr Mann Ursula G. die erste Begleitung beschert. "Als die Pfarrei jemanden für eine junge Mutter suchte, sagte er: »Das kann meine Frau machen.«" Aus geplanten drei Monaten wurden zehn. "Wenn ich etwas mache, dann auch bis zum Ende." Kurz vor dem Tod der Frau war Ursula G. täglich bei ihr. "Das erste Weihnachtsfest in unserem Haus ohne selbstgebackene Plätzchen", sagt sie schmunzelnd.

Nach dem "Sprung ins kalte Wasser" besuchte sie den Kursus, wo sie viel über Trauer, Begleitung und den Ablösungsprozess Sterbender lernte. Auch die Ehrenamtlichen bekommen Begleitung: Einmal im Monat ist Gesprächskreis, zu dem Referenten über Aids, Kommunikation oder Trauerbegleitung sprechen. Zudem werden die Ehrenamtlichen von Psychologen betreut.

An Weihnachten und seinem Geburtstag macht Ursula G. es Rolf O. besonders schön - "es könnte ja das letzte Mal sein". Dennoch ist ihr der Gedanke an das "Danach" unangenehm: "Was ist, wenn er nicht mehr da ist? Falle ich in ein Loch?" Zu lebendig ist ihre Freundschaft. "Wir lachen viel zusammen." Gefasst spricht sie von seinem Tod: "Ich weiß nicht, was auf mich zu kommt, aber ich weiß, dass es nicht leicht werden wird. Ich freue mich aber, bis zum Schluss bei ihm zu sein", sagt sie mit fester Stimme.